Es ist wieder so weit: Wir treten zur Seite und überlassen unseren Blog der Gewinnerin unseres Nachwuchspreises „Berufliche Kommunikation“. In diesem Jahr ging der Hauptpreis an Juliane Schopf, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der medizinischen Fakultät der Universität Münster. Sie untersuchte erstmals eine besondere Kommunikationsform: Impfgespräche. Noch einmal herzlichen Glückwunsch von unserem Team!
Seit Einführung der COVID-19-Vakzine wurden weltweit bislang 13,5 Milliarden Impfdosen (vgl. Our World in Data 2023) verabreicht – jede einzelne von diesen i. d. R. begleitet durch ein Impf- bzw. Aufklärungsgespräch. Welche immense gesellschaftliche Relevanz die Kommunikation im Zuge von Impfungen hat, zeigt das große politische und mediale Interesse an diesen Gesprächen: Wie lassen sich Impfskeptiker:innen überzeugen? Wie nimmt man die Angst vor Impfreaktionen? Wie gelingt eine sinnvolle Abwägung zwischen Krankheits- und Impfrisiko?
Mit der Untersuchung von Impfgesprächen wurde nicht nur erstmalig diese besondere Gattung medizinischer Interaktion, sondern auch die kommunikativen Spezifika im Bereich der präventiven Dienstleistungsmedizin sowie der individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) systematisch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive in den Blick genommen. Dieser institutionelle Hintergrund bewirkt, dass die Erkenntnisse aus (gesprächslinguistischen) Forschungsbeiträgen zur medizinischen Kommunikation im kurativen Bereich, d.h. im Zuge der Behandlung akuter und chronischer Erkrankungen, nicht oder nur bedingt auf Gespräche in der Präventionsmedizin übertragen werden können. Vielmehr nehmen die hier untersuchten Impfgespräche eine Sonderstellung in der medizinischen Kommunikation ein, weil sie als „Zwittergattung“ einerseits zwischen Arzt-Patient-Kommunikation und Verkaufsgespräch sowie andererseits zwischen fürsorgender und wunscherfüllender Medizin changieren. Da Gespräche aus der Präventions- und Dienstleistungsmedizin in gesprächsanalytischen Untersuchungen bislang vernachlässigt wurden, sollte diese Forschungslücke geschlossen werden, indem es systematisch zu analysieren galt, wie diese „Zwittergattung“ kommunikativ umgesetzt wird. Deshalb war von besonderem Interesse, wie die Interaktion zwischen Ärzt:innen als „service supplier“ (Heritage/Lindström 2012) und gesunden Kund:innen im Kontext von fakultativen Selbstzahlerleistungen verläuft und wie der dienstleistungsorientierte Charakter die Gespräche prägt.
Die Datengrundlage der Analyse umfasst eine Kollektion von 68 authentischen Impfgesprächen, die zwischen Mai 2017 und Februar 2019 an sieben verschiedenen Standorten im deutschsprachigen Raum aufgezeichnet und anschließend nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert wurden. Methodisch wurde eine Kombination aus linguistischer Gesprächsanalyse (vgl. Deppermann 2008) und Gattungsanalyse (vgl. Luckmann 1984, 1986, 1988, 2002; Günthner/Knoblauch 1994, 1996, 1997; Günthner 1995, 2000) gewählt. Dieses Vorgehen ermöglichte, sowohl gattungstypische, mikrostrukturelle sprachliche Ressourcen im lokalen Prozess der Interaktion als auch Makrostrukturen wie den institutionellen Kontext oder Routinewissen der Gesprächsteilnehmenden als Teil der interaktional konstituierten Wirklichkeit in Institutionen in der Analyse berücksichtigen zu können. Die situative Emergenz einer Interaktion einbeziehend führt dieser methodische Ansatz dazu, dass einzelne Aussagen nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets vor dem Hintergrund ihres sequenziellen und institutionellen Kontextes analysiert werden (vgl. Auer 1986).
Das Dissertationsprojekt setzte sich jedoch nicht nur zum Ziel, die authentische Arzt-Patient-Kommunikation in der Gattung ‚Impfsprechstunde‘ erstmalig sprachwissenschaftlich zu beleuchten, sondern hatte auch den Anspruch, die Untersuchungsergebnisse anwendungsorientiert für die Aus- und Weiterbildung medizinischen Personals didaktisch aufbereiten und sie damit für die Berufspraxis nachhaltig nutzbar machen. Auf Basis gesprächs- und gattungsanalytischer Erkenntnisse der vorangegangenen Untersuchung wurden Fallvignetten und Rollenbiographien für ein dreiteiliges Training mit Simulationspersonen konzipiert und ausgearbeitet. Die Lehrmaterialien sollen helfen, das Bewusstsein für die Bedeutung der Kommunikation in Impfgesprächen zu schärfen und gleichzeitig den medizinischen Fachkräften die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben, um die Gespräche erfolgreich zu führen.
Die Arbeit leistet somit einen wichtigen Beitrag zur ganzheitlichen Auseinandersetzung mit der Impfkommunikation und legt den Grundstein für eine effektive und zufriedenstellende Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen in diesem gesellschaftlich hochrelevanten Bereich der medizinischen Praxis.
Literatur
Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19. S. 22–47.
Heritage, John/Lindström, Anna (2012): Knowledge, Empathy, and Emotion in a Medical Encounter. In: Peräkylä, Anssi/Sorjonen, Marja-Leena (Hrsg.): Emotion in Interaction. Oxford u. a.: Oxford University Press. S. 256–273.
Günthner, Susanne (1995): Gattungen in der sozialen Praxis. Die Analyse „kommunikativer Gattungen“ als Textsorten mündlicher Kommunikation. In: Deutsche Sprache 23. S. 193–217.
Günthner, Susanne (2000): Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion. Grammatische, prosodische, rhetorisch-stilistische und interaktive Verfahren bei der Konstitution kommunikativer Muster und Gattungen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert (1994): “Forms are the food of faith”: Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46(4). S. 693–723.
Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert (1996): Die Analyse kommunikativer Gattungen in Alltagsinteraktionen. In: Michaelis, Susanne/Tophinke, Doris (Hrsg.): Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. München: Lincom. S. 35–57.
Günthner, Susanne/Knoblauch, Hubert (1997): Gattungsanalyse. In: Hitzler, Ronald/Honer, Anne (Hrsg.): Qualitative Methoden und Forschungsrichtungen in den Sozialwissenschaften. Opladen: Leska & Budrich (UTB). S. 281–308.
Deppermann, Arnulf (2008): Gespräche analysieren. Wiesbaden: VS.
Luckmann, Thomas (1984): Das Gespräch. In: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hrsg.): Das Gespräch. München: Fink. S. 49–63.
Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: kommunikative Gattungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27: Kultur und Gesellschaft. S. 191–211.
Luckmann, Thomas (1988): Kommunikative Gattungen im kommunikativen „Haushalt“ einer Gesellschaft. In: Smolka-Koerdt, Gisela/ Spangenberg, Peter M./ Tillmann-Bartylla, Dagmar (Hrsg.): Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. München: Fink. S. 279–288.
Our World in Data (2023): Coronavirus (COVID-19) vaccinations. URL: https://ourworldindata.org/covid-vaccinations. [abgerufen am 22.10.2023].
Selting, Margret et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung 10. S. 353−402.
Die Autorin
Juliane Schopf war von 2017 bis 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Universität Münster und am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Seit 2022 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS) an der medizinischen Fakultät der Universität Münster.