Wir freuen uns sehr, dass wir heute wieder einen Gastartikel in unserem Blog präsentieren dürfen: Dr. Harald Schenda ist Technischer Redakteur und kennt die Arbeitsprozesse einer Technischen Redaktion und den starken Fokus auf das Dokument und seine technische Erzeugung. In seiner Dissertation entwickelte er ein theoretisches Modell, das die kommunikativen Prozesse zwischen Produkt, Benutzer und Dokument erfasst.
Als Produkt der Zertifizierungsmöglichkeiten und Studiengänge für Technische Redakteure habe ich viel gelernt und bin dem Beruf – sofern das logisch überhaupt Sinn ergibt – zu großem Dank verpflichtet. Allerdings: In knapp 25 Jahren Berufserfahrung als Technischer Redakteur haben Paradoxien unseres Berufs immer wieder zu inneren Konflikten bei mir geführt. So ist mir innerhalb der praktischen Fachkommunikation schon während meiner Zertifizierung 2007 die starke Fokussierung auf das Dokument als „das“ zentrale Arbeitsergebnis Technischer Redakteure erstmals bewusst geworden. Als ursprünglich technisch und praktisch orientierter Mensch habe ich mich gefragt, ob die Denke „ein gutes Dokument führt kausal zur richtigen Bedienung eines Produkts“ nicht zu reduktionistisch ist.
Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich habe mit der Zeit Geschmack gefunden an in den Text- und Translationswissenschaften verwurzelten Fragestellungen zu Terminologie, Stilistik, kontrollierter Sprache, Grammatik oder Fragen wie direkte oder indirekte Anrede, aktive oder passive Nutzerinstruktionen und vieles mehr. Dokumente enthalten neben Text auch meist Bilder und auch dort kann ich mich als ehemaliger Profi (die erste Berufsausbildung war Technischer Zeichner) begeistert in Diskussionen zu Perspektive, Text-Bild-Zuordnung, Strichzeichnung oder Grafik, Qualität von Fotos, Lupeneffekte und vieles mehr verzetteln.
Auch Diskussionen um Modulgrößen, Metadaten und so spannende Fragen wie „Unter welchen Umständen lohnt die Migration alter Dokumente ins Redaktionssystem?“, haben mich in den Redaktionen, in denen ich mitarbeiten durfte, fasziniert und angeregt.
Zusammengefasst scheint mir die dominante Denkrichtung in der praktischen Fachkommunikation eher vom Dokument (und den technologischen und sonstigen Fragen seiner Erzeugung) zu Produktbenutzer und Produkt als umgekehrt. Außerdem haben wir alle in der hektischen Redaktionsarbeit oft keine Zeit, Produkte selbst auszuprobieren. Hinsichtlich der konkreten Bedienung verarbeiten wir oft Input aus zweiter Hand, statt aus eigener Anschauung gewonnenen.
Als Entscheidungshilfe (eigene Recherche am Produkt ja/nein) und Grundlage zur Entwicklung praktischer Methodik plus Denkwerkzeug für Technische Redakteure, habe ich ein theoretisches Modell entwickelt:
Das von mir entwickelte Modell erfasst die verschiedenen Faktoren, die bei der Produktbedienung eine Rolle spielen:
- Das Verhalten des Produkts,
- die Aktionen des Benutzers und
- das Zusammenspiel mit der technischen Dokumentation – und
- die Frage, wo das zur erfolgreichen Bedienung nötige Prozesswissen liegt.
Für den Redaktionsalltag kann das Modell Analyseinstrument sein. Es hilft Technischen Redakteuren, die Bediensituation besser zu verstehen, mit dem Ziel, instruktive Inhalte zu produzieren, die den Benutzer optimal unterstützen. Der Fokus liegt also auf der in der Ausbildung Technischer Redakteure oft vernachlässigten Recherchephase, in der das Produkt selbst erkundet und die Nutzerperspektive eingenommen wird. Direkt am Produkt zeigt sich, wie unterschiedlich Bedienprozesse je nach Produkt und Situation ausfallen und welche Implikationen dies für die Dokumentation hat.
Die Erkenntnisse aus der Analyse mit dem Modell als Denkwerkzeug können in die Erstellung instruktiver Inhalte einfließen. Technische Redakteure erhalten eine fundiertere Basis, um zu entscheiden, welche Informationen der Benutzer in welcher Situation benötigt und in welcher Form diese aufbereitet werden sollten. So lassen sich Gebrauchsanleitungen gezielter auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Nutzer ausrichten.
Literatur: Schenda, Harald: Mikroprozesse der Bediensituation. Berlin: Verlag Frank & Timme, 2024. 246 Seiten. 39,80 € (Softcover) 50 € (E-Book). ISBN 978-3-7329-1069-4.
Das Buch ist kostenfrei als Open Access Datei (PDF) verfügbar: https://www.frank-timme.de/de/programm/produkt/mikroprozesse_der_bediensituation?file=/site/assets/files/6917/9783732988563-1.pdf
Harald Schenda ist zertifizierter Technischer Redakteur (tekom), hat Technische Kommunikation an der Universität Krems studiert und an der Universität Hildesheim am Fachbereich Sprach- und Informationswissenschaften promoviert. 25 Berufsjahre in verschiedenen Funktionen haben seinen Blick auf die Arbeitsprozesse der technischen Redaktion geprägt.