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Gestern ging ein fehlender Buchstabe durch die Presse (z. B. Stern, Berliner Zeitung, NDR, Spiegel). Was ist passiert: Die Spitzenkandidatin der Grünen in Niedersachsen, Julia Willie Hamburg, hat im Wahlkampf ein Plakat gehängt, in dem „Niedersachen“ statt „Niedersachsen“ stand. Nun kann man sagen: „Dumm gelaufen, aber die ganze Aufregung legt sich auch wieder.“ Und das stimmt auch. Solche Fehler finden sich beim genauen Hinschauen auf diversen Plakaten, natürlich auch auf Wahlplakaten und das parteiübergreifend. Für das doctima-Blog wäre dieser Rechtschreibfehler an sich ohnehin keine Meldung wert, wenn sich nicht anhand dieses Falles ein paar Dinge für das manuelle Lektorat lernen ließen …
1. Workflows sind wichtig
Die missglückte Aktion hatte eine logische Ursache. Anscheinend wurde eine falsche Datei mit einem unkorrigierten Stand zur Druckerei gegeben. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass im Publikationsprozess eine nachvollziehbare Vorgehensweise gewählt wird. Dateistände sollten eindeutig benannt werden. Ganz besonders wichtig: Es darf nur eine Datei geben, die als freigegeben bezeichnet wird. Sollte nach der Freigabe noch ein Fehler auftauchen, muss die ursprüngliche Freigabedatei unbedingt gelöscht werden.
2. Vertrautes ist trügerisch
Erstaunlicherweise übersieht man Fehler nicht bei komplexen Wörtern, die man selten verwendet. Fehler sind besonders tückisch bei vertrauten Wörtern – und wir können davon ausgehen, dass die Spitzenkandidatin das Wort „Niedersachsen“ dutzende Male am Tag sieht. Solche Wörter lesen wir nicht wirklich, sondern wir erfassen nur die Textgestalt. Weil wir wissen, was gemeint ist, ergänzt unser Gehirn dann die fehlenden Buchstaben. Es braucht für den/die Lektor:in einiges an Erfahrung und Professionalität, um diesen Mechanismus zu unterdrücken. Deshalb dauert manuelles Lektorat übrigens auch deutlich länger, als den Text einfach durchzulesen.
3. Überschriften sind tückisch
Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass man Fehler besonders gerne in herausgehobenen Textteilen wie Überschriften, Bildbeschreibungen oder Marginalien übersieht. Auch hier schlägt der Mechanismus des ganzheitlichen Lesens zu: Wir gehen davon aus, dass es reicht zu verstehen, was da steht. Wir denken aber nicht, dass wir den Inhalt tiefergehend erfassen müssen und lesen über den Text hinweg. Die kurzen Texte auf einem Plakat funktionieren natürlich ganz ähnlich wie eine Überschrift – deshalb ist auch hier besondere Vorsicht geboten.
4. Grafik ist schwierig
In grafischen Gestaltungen nimmt der Text oft nur einen geringen Anteil an der Kommunikation ein; er hat also quasi eine unterstützende Funktion. Das ist auch bei einem Plakat so. Das Gesicht der Kandidatin soll sich einprägen, der Slogan dient nur also textliches Label. Das bedeutet auch, dass die Aufmerksamkeit auf das Bild fokussiert und dadurch das Lektorat behindert. Deshalb: Besondere Vorsicht bei Bildgestaltungen mit geringem Textanteil.
5. Nichts ist so schlimm wie ein Rechtschreibfehler
Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber es gibt für viele Leute nichts Schlimmeres als Rechtschreibfehler: Deppenapostroph, Scharf-ß oder Doppel-s, Buchstabendreher – die Leute können sich stundenlang über solche Dinge aufregen.
An sich sind Rechtschreibfehler aber relativ banal. Im schlimmsten Fall zeigen sie ein wenig Sorglosigkeit. Über die Intelligenz der Schreibenden (oder in diesem Fall der abgebildeten Spitzenkandidatin) sagen sie nichts aus. Weil sie aber im Allgemeinen so leicht zu entdecken sind, kann man sich so herrlich darüber mokieren. So gesehen sagen sie vermutlich mehr über die Intelligenz der Kritisierenden aus.