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Im letzten Mai erschien die neue Version der Norm für Nutzungsinformationen IEC/IEEE 82079-1. Im September veröffentlichten wir dazu einen Beitrag hier in unserem Blog. Bei Twitter erhielten wir dazu einen Kommentar von Marie-Louise Flacke, die die Verwendung des Begriffs Minimalismus in der ISO 82079-1 kritisierte. Wir freuen uns sehr, dass wir Frau Flacke für einen Gastbeitrag gewinnen konnten, in dem sie uns ihre Kritik näher erläutert. Herzlichen Dank dafür!
Die neue Version der Norm für Nutzungsinformationen IEC/IEEE 82079-1, die im Mai erschienen ist, hat viel Interesse bei Technischen Redakteur*innen gefunden. Zu Recht, denn diese Norm ist schließlich auf alle Produkte anwendbar (Maschinen, Software, Haushaltgeräte, medizinische Geräte usw.) und bietet einige Neuerungen.
So finden wir unter Kapitel 5 das Unterkapitel Minimalismus – endlich! Das Minimalismus-Prinzip wird anerkannt. Es wurde von John Carroll und Hans van der Meij in den neunziger Jahren entwickelt und ist bereits in vielen wichtigen Publikationen diskutiert worden, z.B. „Beyond the Nurnberg Funnel“. Doch ist wirklich dieses Prinzip in der neuen Norm gemeint?
Minimalismus, wie ihn die Norm IEC/IEEE 82079-1 definiert
In der Norm ISO 82079-1 wird Minimalismus wie folgt vorgestellt (Kapitel 5.3.3):
„Minimalism shall be applied. Minimalism is an approach to information for use that includes critical information and the least amount of other information needed to be complete.
Critical information includes the safe use of the product, the security of the information created with the product, or the privacy of the information created by or stored with the product.
Note: Minimalism means that only relevant information is provided.
In contrast to minimalist information, excessive documentation of all possible product functions, for example, is wasteful. It can hinder users’ comprehension of how to use a product for their common or critical tasks, and from discovering needed information quickly in their context of use.
Minimalism balances the cost of developing and sustaining information for use with the needs of the target audiences to operate a product safely, effectively, and efficiently.
Critical information, such as safety-related information, shall be repeated where it is needed.“
Kritische Informationen? Kosten um Informationen zu entwickeln? Ein Produkt sicher, effektiv und effizient betreiben? Sicherheitsbezogene Informationen?
Gehört das zu Minimalismus? Sicher?…
Minimalismus, wie ihn Expert*innen definieren
In einem detaillierten Interview nimmt Dr. Hans van der Meij Stellung zum Minimalismus, wie er in der Norm ISO 82079-1 dargestellt wird:
„It’s not well-informed.“
Das nennt man Klartext!
Also, was versteht man denn allgemein unter Minimalismus im Rahmen der Technischen Dokumentation?
„Minimalism is a use – and user-centered approach. It is use-centered because it gives top priority to creating instructions that support task achievement. It is user-centered because the instructions are tailored to the needs and competencies of the target audience. The superior quality of minimalist over ‘standard’ documentation has repeatedly been proven in controlled experiments. Also, practitioners frequently advocate adoption of a minimalist approach. Furthermore, minimalism has served as the backbone for DITA.“
Dr. Hans van der Meij
Wohl gemerkt: Es geht hier nicht explizit um Sicherheit. Implizit sind aber anwendergerechte, klare und nützliche Anweisungen in einer „minimalistischen“ Dokumentation die beste Garantie für eine sichere Anwendung des Produktes.
Die vier Minimalismus-Prinzipien der ISO 82079-1
Minimalismus ist ein Konzept, das aus vier Prinzipien besteht:
„The four main principles of minimalism are:
action-oriented nature,
domain anchoring,
support for error-management and
provisions for different types of uses.“Dr Hans van der Meij
Weil Minimalismus handlungsorientiert ist, werden Beschreibungen kaum zur Kenntnis genommen. Der Endverbraucher hat ja das Produkt vor den Augen! Er will aber mit dem Produkt eine Aufgabe erledigen. Und genau dazu ist die Dokumentation da. Also keine „Einleitung“, „Allgemeine Information“, usw. Wenn der Kunde eine Brotmaschine gekauft hat, weiß er, dass er damit backen kann. Daher kein Paragraph über „Das Brot backen zu Hause“. Handlungsorientierter wäre z. B. „Schwarzbrot backen“ „Baguette backen“ oder „Das richtige Mehl auswählen“
Unter „Domain anchoring“ versteht man, die Arbeitsumgebung sowie die Erfahrungen der Endverbraucher*innen einzubeziehen: Wie groß ist der Arbeitsplatz? Ist eine Waage vorhanden? Ist der Endverbraucher ein erfahrener Bäcker?
Besonders wichtig ist das 3. Prinzip: Troubleshooting / Fehlerbehebung
„Documentation should prevent users from making errors. Despite best intentions, users are likely to make errors. Minimalist instructions therefore always include support for error-management. That is, the documentation assists the user in detecting mistakes and in error-correction. Generally, users are often also interested in information about possible causes when engaging with errors. Therefore, the error information often also supports diagnosis.“
Dr. Hans van der Meij
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. In einem Artikel von August 2015 schreiben Li, de Jong und Karreman von der Universität in Twente (Niederlande):
„When using the user instructions, the participants… appeared to be impatient: they tended to skip descriptions and “long” text parts, and seemed reluctant to turn pages… Some of the participants said that user instructions can only be helpful if they help solving problems. So they argued that the order of information (from most important to least important) should be troubleshooting information, procedural information, and conceptual information.“
„Cultural Differences and User Instructions: Effects of a Culturally Adapted Manual Structure on Westerm and Chinese Users“ in Technical Communication, vol. 62, Number 3, August 2015
Was wollen die Endverbraucher, wenn sie zur Dokumentation greifen? Troubleshooting! Informationen zur Fehlerbehebung! In der Dokumentation suchen sie keine Sicherheitshinweise, sondern die Lösung für ihre Probleme.
Im 4. Prinzip soll besonders auf den Zugang zur Information geachtet werden. Wie kommt der Endverbraucher zur richtigen Information? Sind die Titel im Inhaltsverzeichnis aufgabenorientiert? Entsprechen sie den Bedürfnissen des Endverbrauchers? Ist ein Sachverzeichnis vorhanden? Ist die Terminologie einheitlich?
Weil es handlungs-, anwendungs- und Benutzer-orientiert ist, hilft das Minimalismus-Konzept dem Endverbraucher zweifellos, anhand der Dokumentation sein Ziel zu erreichen. Somit wird die minimalismus-basierte Dokumentation zur Zufriedenheit des Kundes führen, vorausgesetzt die Minimalismus-Prinzipien werden korrekt umgesetzt.
Ausblick
Die nächste Überarbeitung der ISO 82079-1 wird voraussichtlich erst in vier Jahren vorgenommen. Ein wichtiger Punkt wäre hier, das Minimalismus-Prinzip anzugehen und so festzuschreiben, wie es von Expert*innen bereits diskutiert, definiert und angewendet wird. Bis dahin können alle Interessierten auf folgende Fachliteratur zurückgreifen:
Über die Autorin:
Marie-Louise Flacke ist Senior Technical Writer bei Awel-A-Ben und Mitglied der Arbeitsgruppe 2, ISO Norm 26514. In ihrem Blog schreibt sie über Themen der Technischen Dokumentation.
Nur eine Woche nach Erscheinem dieses Artikels ist Frau Flacke verstorben. Mit ihr hat die Technische Kommunikation eine engagierte und streitbare Expertin verloren. Wir sagen Danke für den Austausch über die Jahre.