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An dieser Stelle haben wir bereits von der Bedeutung interkultureller Kompetenz bei Technischen Redakteuren gesprochen. Heute liegt ein Buch (Mehmet Tahir Öncü: Kulturspezifische Aspekte in technischen Texten) zur Rezension auf unserem Schreibtisch, das eigentlich für (Fach-)Übersetzer gedacht ist. Mit seiner kulturvergleichenden Analyse von Gebrauchsanleitungen könnte es aber auch eine interessante Quelle für die Technische Redaktion sein.
Fachübersetzer müssen neben fremdsprachlichem Wissen in einem fachlichen Bereich auch über ein Bewusstsein für die kulturellen Besonderheiten der Sprachgemeinschaft verfügen. Wer Land und Leute, Sprache und Kultur kennt, kann Übersetzungsfehler vermeiden.
Eine Hilfestellung für den türkischsprachigen Raum möchte Mehmet Tahir Öncü mit seiner Habilitationsschrift vor allem Übersetzern bieten. Doch auch für Technische Redakteure ist sie ein nützliches Nachschlagewerk, und zwar nicht nur in Bezug auf türkischsprachige Anleitungen.
Worum geht es?
Öncü setzt sich mit seinem Werk „Kulturspezifische Aspekte in technischen Texten“ zwei ehrgeizige Ziele – gleichzeitig kommt seine Arbeit, laut seinen Worten, einer Pionierarbeit gleich, da es noch kein ähnliches Unterfangen im Bereich des Fachübersetzens gibt:
- Er möchte neue Ergebnisse für die systematische Analyse mono- und multilingualer Gebrauchsanleitungen liefern.
- Er will spezifische Eigenschaften auf Text- und Satzebene von deutsch- und türkischsprachigen Anleitungen aufzeigen.
Öncü richtet sich damit in erster Linie an Fachübersetzer, die für den türkischsprachigen Raum deutsche Gebrauchsanleitungen übersetzen. Dazu untersucht er Gebrauchsanleitungen der beiden Sprachen von nationalen und internationalen Herstellern von Haushaltsgeräten.
Kurzer Vergleich der deutschen und türkischen Kultur
Das Buch besteht wie jede gute wissenschaftliche Arbeit aus einem Theorie- und einem darauf aufbauenden Empirieteil. Nachdem er den Begriff „Kultur“ im Theorieteil kurz umrissen hat, vergleicht Öncü die deutsche und türkische Kultur mithilfe des häufig für Analysen zugrunde gelegten Fünf-Dimensionen-Modells nach Hofstede, das (bis dahin) als einziges die türkische Kultur einbezieht. Die fünf Dimensionen umfassen:
- Machtdistanz/Soziale Distanz
- Kollektivismus vs. Individualismus
- Unsicherheitsvermeidung
- Maskulinität vs. Feminität
- Langfristige vs. kurzfristige Orientierung
Öncü stellt in seinen Vergleichen fest, dass in nahezu allen Dimensionen Unterschiede in den beiden Kulturen bestehen. Um dem Thema „Übersetzen“ treu zu bleiben, erklärt er danach die Eigenheiten der Übersetzungsmechanismen in Deutschland und in der Türkei. So zeigt er etwa die unterschiedlichen Einflüsse für Übersetzungen, die durch verschiedene Wahrnehmung von Zeit oder Machtdistanzen entstehen und wie diese die Kommunikation prägen. Nach diesem Einblick in die deutsch- und türkischsprachige Kulturwissenschaft geht Öncü kurz auf universelle und kulturspezifische Eigenschaften von Gebrauchsanweisungen ein. Um seinen Untersuchungsgegenstand „Gebrauchsanleitungen“ definieren zu können, erläutert er Fachtextsorten und deren Konventionen. Öncü definiert die Textsorte „Gebrauchsanleitung“ als Mittel der Massenkommunikation und grenzt sie als Textsorte unter der Sammelbezeichnung „Technische Dokumentation“ ab. Er attestiert dieser Textsorte eine „Kulturgebundenheit“, also eine Abhängigkeit zur jeweiligen Kulturgemeinschaft, für bzw. in der sie verfasst wurde.
Praktische Erkenntnisse für Übersetzer und Technische Redakteure?
Seine Analysen im Empirieteil konzentrieren sich auf die Bereiche der Text- und Satzebene. Vor allem für Übersetzer, aber auch für Redakteure, sind die Ergebnisse auf Textebene interessant. Hier legt er den Schwerpunkt auf die Makrostruktur, Sprechakte und den Personeneinbezug. Ein beispielhafter Einblick in seine Ergebnisse zum Bereich der Sprechakte:
Es mag manch einen erstaunen, dass die deutschsprachigen Anleitungen der Untersuchung mehr Direktive (Aufforderungen, Befehle, Bitten) aufweisen als die türkischsprachigen. Diese verwenden im Vergleich zu den deutschsprachigen Anleitungen verhältnismäßig mehr Repräsentative, die ja Feststellungen, Beschreibungen, Behauptungen und Vermutungen beinhalten. Öncü deutet dies als Zeichen einer hohen Machtdistanz, da mit den Repräsentativen eine Art Entwicklerperspektive eingenommen wird und der Anwender den „Entwicklern“ scheinbar weniger dominant gegenübersteht. Die deutschsprachigen Anleitungen stellen analog eine „Anwenderperspektive“ dar.
Fazit: Querschnitt für Übersetzer und Technische Redakteure
Das Buch eignet sich durchaus für Übersetzer bzw. Technische Redakteure, die für den türkischsprachigen Raum arbeiten. Der Leser kann wertvolle Hinweise für die Übersetzung finden – allerdings muss man diese tatsächlich suchen, da sie leider – dem Ziel des wissenschaftlichen Schreibens erliegend – nur schwer im Text aufzufinden sind. Unter den Ergebnissen im Empirieteil finden sich immer wieder nützliche Informationen zu kulturspezifischen Eigenheiten türkischsprachiger Anleitungen. Diese Informationen können auch herangezogen werden, wenn ein Konzept für eine Gebrauchsanleitung für den türkischsprachigen Raum erstellt werden soll.
In diesem Sinne ist das Buch auch Technischen Redakteuren dienlich, die nichts mit der Übersetzung zu tun haben und nicht speziell für den türkischsprachigen Raum Anleitungen erstellen – denn der kleine Rundumschlag Öncüs zu textuellen und sprachlichen Eigenschaften deutschsprachiger Anleitungen kann auch der eigenen Arbeit nützen.
Also: Kein Thema für eine breite Masse; aber hilfreiche Ergebnisse sowohl für deutsch- als auch türkischsprachige Gebrauchsanleitungen. Inwiefern man im Arbeitsalltag darauf zurückgreift, bleibt offen. Im Sinne nutzerorientierter Anleitungen wäre ein belegbarer Zusammenhang zwischen Direktiven und Verständlichkeit interessant; dies war aber nicht im Fokus der Arbeit und verlangt eine andere Zielstellung und Methodik.
Literatur: Öncü, Mehmet Tahir: Kulturspezifische Aspekte in technischen Texten. FFF – Forum Fachsprachen Forschung, Bd. 109. Verlag Franck & Timme, Berlin, 212 Seiten. ISBN 978-3-86596-517-2
Hinweis: Das hier besprochene Buch wurde uns vom Verlag kostenfrei als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Der Verlag hat keinerlei Einfluss auf den Inhalt dieser Besprechung genommen.