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Juristische Gutachten sind ja so Texte, mit denen wir Laien eher selten in Berührung kommen. Und auch als Fachredakteur hat man damit kaum zu tun. Warum sollte man sich also ein Buch dazu näher ansehen? Das habe ich mich zunächst gefragt, als ich auf Tina Hildebrands „Juristischer Gutachtenstil“ gestoßen bin.
Stilistik als Denkschule
Aber oft lernt man ja mehr, wenn man einmal in die Ferne schweift. Und so lohnt es sich, auch einmal „fremde“ Textsorten zu betrachten und zu prüfen, was sich auf die eigene Arbeit übertragen lässt. Und ich muss sagen: Da kommt eine ganze Menge zusammen.
Sehr beeindruckt hat mich, wie die Autorin Fragen der Textstrategie und Textplanung ganz eindeutig in den Mittelpunkt ihres Lehrbuchs stellt. Das ist einerseits sehr innovativ – Content Strategie ist ja nicht umsonst zurzeit ein extremer Hype. Andererseits geht das zurück auf antike Traditionen. Rhetorik ist in ihren Anfängen immer auch Denk- und Argumentationsschule.
Und man muss der Autorin gratulieren! Herausgekommen ist dabei etwas wirklich Praxisrelevantes: ein Lehrbuch, das den Blick weg von den üblichen Formulierungsdetails zum großen Ganzen lenkt. Tatsächlich trifft Hildebrand Formulierungsempfehlungen immer eingebettet in größere Zusammenhänge. Ein Beispiel: „Warum verwende ich im Gutachten kein Passiv? In anderen wissenschaftlichen Studienfächern wird viel Passiv als Zeichen der Neutralität verwendet. Das Passiv hat den Vorteil, dass die handelnde Person nicht genannt wird […]. Für Juristen ist aber gerade wichtig, wer handelt.“ (S. 3). Wobei man sich dann schon fragen muss, warum juristische Texte dann trotzdem so viel Passiv enthalten.
Bei Empfehlungen wie dieser merkt man ganz deutlich den Blick der Praktikerin: Tina Hildebrand unterrichtet als Schreibtrainerin und -beraterin an der Universität Bielefeld. Und aus eigener Seminarerfahrung kann ich bestätigen, dass Stilprobleme häufig durch eine ungenaue Textstrategie entstehen.
Präzision als Ziel
Lernen kann man von diesem Buch auch, wie sich sprachliche Präzision erreichen lässt. Dabei profitiert die Autorin von dem funktionalen Ansatz ihrer Argumentation. Jede stilistische Entscheidung wird auf ihre Wirksamkeit für den Text und das Textziel geprüft. Ist diese gegeben, dann scheut die Autorin sich auch nicht, extrem kleinteilige Schreibvorschriften zu machen: „Warum verzichte ich auf ‚weil‘ und ‚da‘?“ Ja warum? Lesen Sie es selbst auf S. 37.
Zur sprachlichen Präzision gehört auch, dass Hildebrand explizit auf das Thema Korrigieren der eigenen Texte eingeht. Dafür liefert sie eine knappe Checkliste, in der die wichtigsten Punkte abgehakt werden können.
Stilfehler
Allerdings haben mir als Linguist auch einige Dinge in dem Lehrbuch gefehlt. Hildebrand geht vergleichsweise selten auf grammatische Fragen ein: Passiv, Konjunktiv, das war’s dann auch schon im Wesentlichen. Und wenn sie grammatische Themen anspricht, habe ich mich oft gefragt, ob denn die Leser diese grammatische Form zuverlässig erkennen können. Meiner Erfahrung nach ist es nämlich keineswegs so, dass sprachliche Laien (ja, auch Juristen) zuverlässig ein Zustandspassiv identifizieren oder Konjunktiv von Konditionalis unterscheiden können.
Mein Fazit: Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen, auch wenn ich wahrscheinlich nie ein juristisches Gutachten schreiben werde (und hoffentlich auch keines lesen muss). Tina Hildebrand hat hier ein kurzes, aber anregendes und gut durchdachtes Lehrbuch vorgelegt, das mir einige Denkanstöße gegeben hat. Direkt übertragen auf meine alltäglichen, praktischen Redaktionsprobleme lässt sich das Lehrbuch zwar nicht. Für den vergleichsweise niedrigen Preis von 11,99 € (online-Zugang) kann man das aber in Kauf nehmen.
Hinweis: Das hier besprochene Buch wurde uns vom Verlag kostenfrei als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Der Verlag hat keinerlei Einfluss auf den Inhalt dieser Besprechung genommen.
Literatur: Hildebrand, Tina [2014]: Juristischer Gutachtenstil. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. A. Francke Verlag, Tübingen ISBN 978-3-8252-4206-0
Sehr geehrter Herr Dr. Nickl,
vielen Dank für Ihre Rezension!
Warum kommen in juristischen Gutachten dennoch so viele Passivformen vor?
Zum einen ist es, glaube ich, erlerntes Verhalten anhand einer “objektiven” Sprachnorm. Zum Anderen gäbe es ja keinen Grund zur Kritik, wenn es nicht so wäre. Wahrscheinlich war dieser Umstand eine Motivation für die Autorin.
Im Bereich Dokumentation können wir durchaus in die Lage kommen, dass wir ein Gutachten im Rahmen einer Produkthaftungsklage lesen müssen. Daraus können sich für technische Autoren oder Redakteure berufspraktische Konsequenzen ergeben.
Sehr geehrter Herr Mieth,
da haben Sie natürlich recht, im Rahmen der Produkthaftung können wir durchaus gezwungen sein, juristische Gutachten zu lesen. Und dann ist es gut, wenn man weiß, wie so ein Dokument inhaltlich aufgebaut ist.
[…] Vollständige Rezension unter https://blog.doctima.de/2015/03/feiner-stil-bei-den-juristen/ […]