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Neulich hatte ich das Vergnügen, einer Wissenschaftlerin von der Uni Göttingen für ein Interview Rede und Antwort zu stehen. Das Thema: Linguistik und wie Sprachwissenschaft in unseren Seminaren auftaucht. Grund genug, sich einmal wieder Gedanken über unsere Basiswissenschaft zu machen.
Linguistik und Geisteswissenschaft
Die Geschichte der Linguistik ist eine Geschichte voller Missverständnisse. So oder so ähnlich erlebt man das als Linguist immer wieder. Das geht schon bei der Berufsbezeichnung los: Bin ich nun Germanist oder Linguist oder Kommunikationsexperte oder Sprachwissenschaftler? Die Antwort ist „Ja, aber…“ Nicht gerade das, was man sich von jemand wünscht, der eigentlich vermitteln will, wie man klar und verständlich schreibt.
Andererseits gibt es auch eine Menge Unkenntnis über Linguistik. Da wurde ich zum Beispiel während meiner Promotion von einem Betriebswirt nach meinem Studienfach gefragt. „Linguistik“ quittierte er mit der Bemerkung: „Mit Gedichten konnte ich noch nie so viel anfangen.“ Noch heute muss ich über sein konsterniertes Gesicht schmunzeln, als ich antwortete: „Ich auch nicht.“
Auch wenn es manchen schwerfällt, das zu akzeptieren: Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft haben nicht wirklich viel miteinander gemeinsam – auch wenn sie beide in der Germanistik (oder Romanistik, Anglistik, Sorabistik …) angesiedelt sind. Das zeigt sich nicht nur in den Themen, mit denen man sich beschäftigt. Viel deutlicher wird das noch in der Methodik. Spätestens seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Sprachwissenschaft von der sogenannten Lehnstuhllinguistik verabschiedet und sozialwissenschaftlichen Methoden zugewandt. Heute herrschen experimentelle, korpusanalytische und statistikbasierte Methoden vor. Die Vorgehensweise ähnelt dadurch Fächern wie Psychologie, Betriebswirtschaft oder Informatik. Das freie Philosophieren über Sprache ist dagegen bei modernen Linguisten nicht mehr salonfähig.
Ein weites Feld
Linguistik ist die Erforschung der Sprache, so einfach ist das. Und gleichzeitig so kompliziert, denn es gibt nur wenige menschliche Tätigkeiten, die ohne Sprache auskommen. Das zeigt folgende kleine und komplett unvollständige Auswahl von linguistischen Aufsätzen, die ich im letzten Jahr gelesen habe (und die nichts mit unserer Arbeit bei doctima zu tun haben):
- Spracherwerb von Kleinkindern
- Sprachphänomene im Hip-Hop
- Metaphernsysteme in australischen Eingeborenensprachen
- Dialektgeographie des Bairischen (ja, „bairisch“ mit „ai“)
- Wissenskommunikation bei Museumsbesuchern
Dieses breite Themenfeld macht es der Öffentlichkeit dann aber auch nicht leicht, einen Eindruck von der Linguistik zu bekommen. Kein Wunder also, wenn meine Nachbarin anzweifelt, dass ich weiß, wovon ich rede, wenn ich ihr sage, dass ein Kind mit zweieinhalb noch kein „r sprechen können muss (und vor allem nicht in Wörtern wie „Quark“ und „Tor“, in denen kein “r” gesprochen wird).
Und dass Linguisten als Wissenschaftler bestenfalls dilettantisch PR betreiben (um das mal schonend zu sagen) hilft auch nicht gerade. Wobei es dann doch einige rühmliche Ausnahmen gibt wie Anatol Stefanowitsch. Mit seinem Sprachlog führt er einen tapferen Kampf gegen all die kulturkritischen “Sprachbewahrer”, die sich sonst so zu sprachlichen Phänomenen zu Wort melden.
Linguisten, die Oberlehrer der Nation?
Ein Problem, mit dem man als Linguist zu kämpfen hat, ist das Image des „Bescheidwissers“, besonders wenn es um solche Dinge geht wie Rechtschreibung oder Stil. Linguisten werden auch oft mit der Angst konfrontiert, dass man sich sprachlich blamieren könnte, weil man
- Dialekt spricht,
- nicht genau weiß, ob da ein Komma gesetzt wird,
- man zu viele Anglizismen verwendet, sich nicht gewählt genug ausdrückt usw.
Nichts könnte aber falscher sein. Linguisten interessieren sich normalerweise nicht dafür, ob etwas richtig ist, sondern nur, ob es echt ist. Linguisten beobachten sprachliche Phänomene und machen sich Gedanken, wie diese sich in ein System einordnen lassen, wie sie zueinanderpassen, sich wechselseitig bedingen oder ausschließen. Sie betrachten Dialekt nicht als minderwertig, sondern als wertvolles Kulturgut, das in Jahrhunderten entstanden ist (ganz im Gegensatz zum Hochdeutschen, das ein Gemisch aus verschiedenen Dialekten ist). Und: Wenn Rechtschreibung und Grammatik nicht gerade ihr Spezialgebiet ist, wissen sie es meist auch nicht besser.
Linguistik im Business
Doch zurück zum Ausgangspunkt dieses Postings. Wie steht es mit Linguistik in unseren Seminaren (und in unserem Arbeitsalltag ganz allgemein)? Auf den ersten Blick sieht man da nicht viel Linguistisches. Das hat weniger mit einem Fehlen an linguistischen Inhalten zu tun als mit harter Arbeit. Denn wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, unseren Kunden Linguistik beizubringen (obwohl wir das gerne tun, wenn es gewünscht ist). Sondern uns geht es darum, konkrete Sprachprobleme zu lösen.
Linguistische Fachbegriffe würden dafür nur den Blick auf das Wesentliche verstellen: Einen Umgang mit Sprache, der funktional und zielorientiert ist; der Sprache als Handeln auffasst und nicht als das Übermitteln von Informationen; der differenziert, wo es nötig ist, und systematisiert, wo es weiterhilft. Dass das Ganze auch wissenschaftlich fundiert ist, können unsere Kunden dann getrost erst einmal ignorieren. Denn der Unterschied liegt in den Ergebnissen.
Der Unterschied liegt in den Ergebnissen – wie wahr! Mich fasziniert es immer wieder, was mit Sprache alles ausgedrückt werden kann, aber auch, wie viel Mystifizierung durch das Anwenden linguistischer Werkzeuge möglich ist. Das zieht sich durch viele Lebensbereiche – privat und beruflich. Auch Marketing lebt letztlich davon, wie überzeugend der Text in der Werbung rüberkommt. Insgesamt ist Linguistik ein weites Feld. Kein Wunder also, dass man auf den ersten Blick keine eindeutige Abgrenzung von den anderen Sprachwissenschaften vornehmen kann.