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Als Linguist ist es vermutlich ein Berufsrisiko: Sobald ich in einem Text über eine Formulierung stolpere, fange ich an zu grübeln, was da eigentlich los ist.
Sprachliches Unbehagen
Gegrübelt habe ich in letzter Zeit zum Beispiel über Sätze wie diesen aus einem Artikel auf Spiegel online: „In der Zwischenzeit hat Bügerrechtsanwältin Gloria Allred in einer Pressekonferenz in Los Angeles ein weiteres vermeintliches Opfer von Trump vorgestellt. Summer Zervos, eine frühere Kandidatin der Realtity-Show ‘The Apprentice’, beschuldigt Trump ebenfalls, sie belästigt zu haben.“
Na? Regt sich bei Ihnen auch das sprachliche Unbehagen? Zugegeben, Trump und sein Verhältnis zu Frauen ist immer ein wenig gruselig. Aber das meine ich in dem Fall nicht. Mir geht es auch nicht um „Bügerrechtsanwältin“ und „Realtity“, sondern um das „vermeintlich“ (na ja, das war bei dem Titel des Posts wohl auch zu erwarten).
Was ist los mit „vermeintlich“?
Im ersten Moment, war ich ein wenig irritiert, anhand welcher Fakten der Autor Frau Zervos der Lüge überführt hat. Dann wurde mir klar: Es geht hier gar nicht um „vermeintlich“, sondern um „mutmaßlich“. „Vermeintlich“ heißt im Kern: „Es wird behauptet/angenommen, ist in Wirklichkeit aber gar nicht so.“ Gemeint war aber „Es wird behauptet/angenommen.“ und genau das drückt „mutmaßlich“ aus.
Ursachen – vermutlich
Ich denke, dass hier eine Verwechslung mit „vermutlich“ vorliegt. „Vermutlich“ bedeutet zwar das Richtige, Nur hat „vermutlich“ auch den Nachteil, dass es kein typisches Adjektiv ist, was manche Schreiber vermutlich verunsichert. Das Wort unterliegt nämlich bei seiner Verwendung gewissen Beschränkungen. Ein Beispiel: „Der vermutliche Täter ist alt“, lässt sich ohne Probleme formulieren; dagegen „Der alte Täter ist vermutlich.“ nicht. Das heißt: „Vermutlich“ ist ein Adjektiv, das sich nur eingeschränkt prädikativ verwenden lässt. Bei „vermeintlich“ ist das übrigens genau das Gleiche: „Der alte Täter ist vermeintlich.“ Wohl auch ein Faktor bei der Verwechslungsgefahr.
Ist das denn so wichtig
Wer mich kennt, weiß, dass ich ganz gewiss kein Sprachkritiker bin, der bei jeder Sprachwandel-Erscheinung sofort den Niedergang des Abendlands ausruft. Andererseits muss ich zugeben, dass mir Fehler wie dieser wirklich den Blutdruck in die Höhe treiben. Ich finde nämlich, dass hier etwas sehr Wichtiges verloren geht, und zwar die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Potenziellem und Irrealem. Das Gleiche sieht man auch beim Verschwinden des Konjunktivs. Und bei der Verwechslung zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“. Und, und, und. Aber vielleicht muss das ja im Zeitalter der Virtual und Augmented Reality so sein…
(Ergänzung: Offensichtlich ist auch Spiegel online der Fehler bereits aufgefallen. Mittlerweile wurde „vermeintlich“ durch „mutmaßlich“ ersetzt.)