Inhaltsverzeichnis
- Lastenhefte und Pflichtenhefte in interfachlichen Projekten schreiben
- Weitere Lesende und Entscheider in Ausschreibungsverfahren
- Problem mit multimodalen Darstellungsmitteln in den Texten
- Semiotische Effizienz als Lösung: die Technische Redaktion als Mittler
- Fazit
- PowerWebinar „Lastenhefte und Pflichtenhefte erstellen und gestalten“
Lastenhefte und Pflichtenhefte gehören zum Alltag in vielen Technischen Redaktionen. Wir freuen uns sehr, dass wir zu diesem wichtigen Thema Alexander Holste als Gastautor gewinnen konnten. Er kennt Lasten- und Pflichtenhefte nicht nur aus der Praxis als Leiter einer Technischen Redaktion, sondern forscht parallel im Bereich des beruflichen Schreibens. In seinem Blogbeitrag berichtet er über interfachliche Projekte und die Rolle der Technischen Redaktion bei der Erstellung von Lasten- und Pflichtenheften.
Lastenhefte und Pflichtenhefte in interfachlichen Projekten schreiben
Haben Sie das schon einmal erlebt? Neben der regulären Arbeit in der Abteilung wurde ein Projekt aus Mitarbeitenden verschiedener Abteilungen (Marketing, Controlling, Technik, Recht usw.) mit dem Ziel zusammengesetzt, einen Auftrag zu bekommen oder einen Auftrag zu vergeben (siehe Abbildung 1). Ein interfachliches Team, das so im Unternehmen entsteht, muss dann entweder ein Angebot schreiben (Bieterseite) oder einen Auftrag ausschreiben (Auftraggeberseite).
Bei komplexeren Gegenständen und/oder Dienstleistungen, die geordert bzw. angeboten werden, verfasst das jeweilige Projektteam dann vereinfacht ausgedrückt entweder ein Lastenheft (Auftragsausschreibung durch den Auftraggeber zum WAS des Auftrags) oder ein Pflichtenheft (Angebot durch die Bewerber zum WIE des im Lastenheft Beschriebenen; siehe VDI 2519-1: 2001; Blogbeitrag zu Lasten- und Pflichtenheften von doctima).
Entscheidend ist bei dieser Projektkommunikation, ob sowohl aufseiten des Auftraggebers als auch der verschiedenen Bieter jeweils ein interfachliches Team arbeitet. Dies ist ausschlaggebend, um folgende Frage zu beantworten: „Ist für den Auftraggeber nachvollziehbar, was wir da angeben oder müssen wir es erläutern?“ Auch für den Auftraggeber stellt sich die Frage aus der entgegengesetzten Perspektive. Letztlich lässt sich daher das Problem, das beim gemeinsamen Verfassen der Texte im interfachlichen Projektteam immer wieder auftaucht, auf die einfache Frage reduzieren: „Haben wir es mit Experte-Experte-Kommunikation oder mit Experte-Laie-Kommunikation (sog. Transgression) zu tun?“ Diese Frage lässt sich aber weniger einfach zu beantworten.
Denn zwei Konstellationen sind denkbar:
- Wenn ein interfachliches Team aus Juristen, Ingenieuren, BWLern eines Bieters das Pflichtenheft verfasst und aufseiten des Auftraggeber als einziger hauptverantwortlich Lesender ein Ingenieur dieses Angebot liest, wäre der Rezipient zwar Experte in technischen Fragen, aber Laie, was juristische Fragen zum Angebot von Bewerbern durch das Pflichtenheft angeht.
- Ein interfachliches Team aufseiten des Auftraggebers, das die Pflichtenhefte der Bewerber liest, erscheint dagegen als „Experte“.
Aber auch bei Konstellation 2 kann ein Problem auftreten: Lesen nicht alle Projektmitglieder, also alle Experten aller beteiligten Unternehmensbereiche, das gesamte Pflichtenheft, besteht die Gefahr, dass partiell wiederum Experte-Laien-Kommunikation entsteht: Der Jurist kann die Bedeutung von Fachwörtern aus der Betriebswirtschaftslehre wie Barwertmethode o. Ä. nicht einschätzen, winkt sie beim Lesen aber durch. Der Controller des Bieters gibt vielleicht die Barwertmethode an, ist sich aber nicht im Klaren darüber, dass diese Angabe juristisch verbindlich ist, sobald sie den Auftrag bekommen.
Abstrakt ausgedrückt: Experte aus Bereich 1, der an diesem interfachlichen Schreibprozessen beteiligt ist, hat keine Kenntnisse zur Fachterminologie aus Bereich 2 und invers für den Experten aus Bereich 2. Ein im Lasten- oder Pflichtenheft behandelter Gegenstand bzw. Teilgegenstand macht die jeweils beteiligten Projektmitglieder – abhängig von ihrer jeweiligen Fachkenntnis – also zu Experten oder zu Laien.
Weitere Lesende und Entscheider in Ausschreibungsverfahren
Auftraggeber haben i. d. R. weitere potenzielle Lesende für ihr Lastenheft im Blick: Gerichte, Schlichtungsinstanzen etc. „Können die jeweiligen Juristen ebenfalls nachvollziehen, was wir dort im Lastenheft gefordert haben?“ Ein Richter wäre als Jurist für die Beschreibung eines technischen Gegenstands Laie und könnte nur sehr bedingt darüber entscheiden, wer denn nun für die Kosten aufkommt, um ein Fahrzeug, ein Gebäude, eine Anlage o. Ä. umzubauen – der Auftraggeber oder der Bieter respektive der Auftragnehmer?
Richter oder Schlichtungsinstanzen müssten sich dann auf das Urteil eines externen Gutachtens verlassen, falls die Zeit im Verfahren dies zulässt. Und Expertengutachten können bekanntlich sehr unterschiedlich ausfallen. Weder Auftraggeber noch Auftragnehmer möchten sich dieser Gefahr aussetzen, wenn sie es im Vorfeld verhindern könnten.
Problem mit multimodalen Darstellungsmitteln in den Texten
Noch komplexer wird es nun, wenn die Experten nicht die Bedeutung der weiteren Darstellungsmittel kennen, falls Lasten-/Pflichtenhefte nicht nur Schriftsprache beinhalten, sondern auch technische Zeichnungen, CAD-Darstellungen, Fotos, Formeln etc. (siehe Holste 2019). Möglicherweise schaut sich der im Projekt beteiligte Jurist eine technische Zeichnung nicht an, weil sie scheinbar nicht zu seinem Aufgabenbereich gehört. Oder er schaut sie an, versteht sie aber nicht, weil ihm das Wissen um dieses Zeichensystem fehlt. Das wäre aber wichtig, schließlich verpflichtet sich der Bieter mit bestimmten Schraffuren in der Zeichnung, ein bestimmtes Material beim Bau eines Fahrzeugs oder Gebäudes zu verwenden, was u. a. in DIN ISO 128-50 (2002) festgelegt ist.
Selbiges gilt für Schaltpläne, Formeln und viele weitere Zeichensysteme – je nach beteiligtem technischem Bereich. Es kann sein, dass dem Ingenieur bei der Erstellung der Zeichnung dagegen nicht klar ist, wie juristisch verpflichtend seine Schraffuren sind. Dasselbe gilt für Fotos: Wird ein physikalischer Gegenstand fotografiert, kann das Dargestellte als verbindlich gelten. Es sei denn, dies wird durch einen schriftlichen Vermerk ausgeschlossen. Möglicherweise widersprechen sich sogar schriftsprachliche Angaben und Darstellungen in Fotos. Welche Angabe wäre in diesem Fall verbindlich?
Es geht noch komplizierter: Für Projektmitglieder gibt es beim interfachlichen Schreiben möglicherweise weitere Fallstricke. Zwischen grafischen Darstellungen wie den oben genannten und schriftlichen Angaben können implizite Zusammenhänge bestehen, die keinem der beteiligten Projektmitglieder klar sind. Segnet z. B. der Jurist die Generalklausel im Pflichtenheft ab, dass alle gesetzlichen Anforderungen und Normen mit den Angebot eingehalten werden und der Ingenieur prüft die technische Zeichnung darauf hin, ob alle Angaben DIN-konform dargestellt wurden und die von Betriebsplanung und Controlling geplanten Sitzplätze in einem Fahrzeug korrekt eingezeichnet sind, könnte es passieren, dass niemand darauf achtet, dass 12 von den 120 Sitzplätzen behindertengerecht sein müssen, damit das Fahrzeug die sogenannte TSI PRM einhält (Holste 2019: 353 f.).
Einen solchen inhaltlich impliziten Zusammenhang zwischen Schrift und Bild nennt man auch logisch-sematische Relation. Wer hat ein Auge auf diese Zusammenhänge von Schrift und Bild im bindenden Angebot? Weder der Jurist noch der Ingenieur, Controller oder Betriebsplaner.
Semiotische Effizienz als Lösung: die Technische Redaktion als Mittler
Weil in dieser komplexen Projektkommunikation zwar die Projektleitung den Überblick über alles behalten möge, aber nicht für alles – vermeintlich ausschließlich – Textuelle den Kopf frei hat, liegt es nahe, dass sich die Spezialisten für den Text darum kümmern: die Technischen Redaktion. An dieser Stelle sollte sich die Redaktion darüber im Klaren sein: sie ist nicht nur für die Darstellungsmittel zuständig, sondern auch für den Überblick über das im Text Dargestellte! Somit kommt ihr in der interfachlichen Projektkommunikaton die Rolle eines Mittlers zwischen den verschiedenen Unternehmensbereichen zu, die im Projekt zusammengeschlossen sind (Holste 2020; siehe Abbildung 1).
Dazu erfordert es viel Erfahrung, die es ermöglicht, in jedem Themenbereich, den das Lasten-/Pflichtenheft behandelt, „ein bisschen“ Experte zu sein. Für jedes Darstellungsmittel, das verwendet wird – nicht nur Schrift, sondern auch Zeichnungen, Bilder und Schrift-Bild-Zusammenhänge –, muss die Technische Redaktion definitiv Experte sein. Denn aufgrund ihrer Erfahrung mit der Erstellung von Lasten-/Pflichtenheften sind ihr die Konventionen bekannt, die für diese Textsorte in einer bestimmten Branche gelten. Die Redaktion weiß also, welche Erwartungen die Lesenden an darzustellende Inhalte haben und mit welchen Mitteln diese Inhalte dargestellt werden.
Auf dieser Grundlage ist es der Redaktion möglich, mehrere Textfunktionen durch Schrift und Bild explizit oder implizit auszudrücken:
- zu informieren,
- sich gleichzeitig zu einem Angebot zu verpflichten,
- mit ästhetisch ansprechenden Fotos in dieser doch eher trockenen Textsorte Lasten-/Pflichtenheft indirekt zu werben usw.
Am Ende steht und fällt der Erfolg eines Projekts mit den interfachlichen Fähigkeiten der Technischen Redaktion, der sogenannten transsubjektiven Kompetenz. Erst wenn es ihr gelingt, die Funktionen eines interfachlichen Sprache-Bild-Textes nach den gültigen Konventionen oder – wenn nötig – von diesen abweichend auszudrücken, sind die Kommunikation und das Dokument effizient (siehe Abbildung 2).
Fazit
Festzuhalten bleibt: Sind Sachverhalte nicht eindeutig geklärt, kann es für den Auftraggeber, den Auftragnehmer oder auch für beide Seiten teuer werden. Denn das jeweilige Lasten- und Pflichtenheft geht in den abgeschlossenen Vertrag ein und gilt als verbindlich. Ist im Pflichtenheft – beispielsweise für ein Fahrzeug – nicht exakt beschrieben, wie es ausgestaltet sein muss, hat der Auftraggeber nach Auftragserteilung keine Handhabe, eine Änderung nach seinen (nicht geäußerten, ggf. offensichtlichen) Vorstellungen durchzusetzen. Dies hätte der Auftraggeber klar im Lastenheft fordern müssen.
Durch solche Unklarheiten im Lasten- und im Pflichteheft kann auch ein Imageschaden für ein Unternehmen entstehen. Möchte man dem Auftragnehmer noch einmal einen Auftrag erteilen, wenn man bereits bei einem vergangenen Auftrag im Streit, ggf. vor Gericht prozessiert hat?
Eine Sensibilisierung von Projektmitarbeitenden
- a) für die Bedeutung von Angaben in Lasten- und Pflichtenheften, die sowohl durch Schriftsprache als auch durch Bilder, Zeichnungen, CAD-Darstellungen, Fotos und die Spezifika ausgedrückt werden können, und
- b) für interfachliche Zusammenarbeit
sind für den kurzfristen Erfolg eines Projekts und den langfristen Erfolg des Unternehmens aufseiten von Auftraggeber und Auftragnehmer essentiell. Diese Sensibilisierung kann bereits im Studium in den jeweiligen Fächern wie in den Ingenieurwissenschaften (Holste / Gebhardt 2020) oder auch berufsbegleitend in Seminaren stattfinden.
Quellen
Holste, Alexander (2019): Semiotische Effizienz interfachlicher Sprache-Bild-Textsorten. Schreibprozesse bei Pflichtenheften technischer Ausschreibungen. Berlin: Frank & Timme. DOI 10.26530/OAPEN_1006684
Holste, Alexander (2020): Technische Redaktionen als Mittler in multimodaler interfachlicher Kommunikation. Warum Technische Redakteure mithilfe von Bildern und Sprache kommunizieren. In: Heidrich, Franziska/Schubert, Klaus (Hrsg.), Fachkommunikation – gelenkt, geregelt, optimiert. Fach – Sprache – Kommunikation, Band 1. Hildesheim: Universitätsverlag / Georg Olms, 69-87. DOI 10.18442/087
Holste, Alexander/Gebhardt, Torben (2020): TextING – Ein Best-Practice-Beispiel für beruflich- und wissenschaftlich-kooperatives Schreiben in den Ingenieurwissenschaften. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 25 (1). ISSN 1205-6545
DIN ISO 128-50 (2002): Technische Zeichnungen. Allgemeine Grundlagen der Darstellung – Teil 50: Grundregeln für Flächen in Schnitten und Schnittansichten. Berlin: Beuth.
VDI 2519-1 (2001): Vorgehensweise bei der Erstellung von Lasten-/ Pflichtenheften. Berlin: Beuth.
Über den Autor
Alexander Holste leitete die technische Redaktion eines ÖPNV-Anbieters bei der interfachlichen Erstellung von Pflichtenheften in Ausschreibungsverfahren. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter lehrt und forscht er seit 2009 an der Universität Duisburg-Essen zu technischem, wissenschaftlichem und allgemein beruflichem Schreiben. Seit der Promotion zu Ausschreibungsprozessen unterstützt er das Land NRW bei der Erstellung von Lastenheften.
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen