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Wenn ich nicht gerade meinem Job bei doctima nachgehe oder hier blogge, betreue ich bei der tekom ein Expertenforum zu Sprachthemen rund um die Technische Dokumentation. Dort kam letzte Woche eine interessante Frage auf, die ich hier noch einmal ausführlicher beleuchten möchte. Denn sie zeigt ein paar Dinge darüber, wie Wörter „funktionieren“ und wo es sich lohnt, Dinge zu standardisieren (oder nicht).
„Immer“ oder „nur“?
Worum ging es nun konkret. Ein Nutzer des Forums hatte darum gebeten, die Bedeutung von „immer“ und „nur“ möglichst eindeutig – „quasi mathematisch“ – zu definieren. Das klingt zunächst einmal einfach. Wo das Problem liegt, merkt man an den beiden Beispielsätzen, die er zur Erklärung mitgebracht hatte:
- „Das Bauteil immer auf ebenen Unterlagen befestigen.“
- „Das Bauteil nur auf ebenen Unterlagen befestigen.“
Hier benötigt man eine eindeutige Lösung. Sonst führen die unterschiedlichen Formulierungsvarianten zu Verwirrung bei den Lesern.
Bedeutung und Deutung
Die beiden Beispiele machen klar: Auf den ersten Blick sind „immer“ und „nur“ recht verschieden. Sie haben aber einen gemeinsamen Bedeutungskern. Ich will diesen Bedeutungskern einmal abstrakt als „Ausschließlichkeit“ bezeichnen. Bei „nur“ ist diese Bedeutung offensichtlich, bei „immer“ ein wenig vermittelter. Hier ist die zeitliche Bedeutungskomponente im Vordergrund; der Aspekt „Ausschließlichkeit“ ergibt sich dadurch, dass das Wort „zu jeder Zeit“ bedeutet, also keine Ausnahme zulässt.
Fazit: „immer“ und „nur“ sind in diesem Kontext Synonyme, die lediglich eine ganz leichte Bedeutungsschattierung transportieren. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen „immer“ fokussiert eher auf den Prozess, „nur“ eher auf das Produkt bzw. den Einzelfall. Reicht das als Erklärung? Ist das die Lösung für dieses Standardisierungsproblem?
Spannend?
Die Antwort dazu gebe ich weiter unten. Zuvor möchte ich ein wenig in die Theorie abschweifen. Denn spannend an dem „immer“/”nur”-Problem finde ich nicht nur die Bedeutungsdiskussion. Fast noch interessanter ist das – Achtung Theorie! – semantische Modell, das hinter dieser Frage bzw. Sicht auf die Wortbedeutung ergibt. Kann es sein, dass Wörter ihre Bedeutung je nach Kontext verändern? Kann es sein, dass bestimmte Aspekte der Wortbedeutung je nach Kontext ein- und ausgeblendet werden. Und was ist dann eigentlich die Bedeutung eines Wortes?
Viele von uns gehen intuitiv davon aus, dass jedes Wort eine klar umrissene Bedeutung besitzt, die sich zumindest prinzipiell in einzelne Bedeutungsbestandteile zerlegen lässt. „Mutter“ ist „direkter Vorfahr“ und „weiblich“ (mal abgesehen von „Schraubenmutter“ und ähnlichen Homonymen). So ähnlich mache ich das oben auch, wenn ich als Bedeutungselement der beiden Begriffe „Ausschließlichkeit“ isoliere. Diese Sicht auf die Wortbedeutung nennt man Merkmalssemantik.
Tatsächlich sind Wörter in ihrer Bedeutung aber gar nicht so fix, wie wir das glauben. Vielmehr besitzen sie einen Bedeutungskern, der nach außen hin aufweicht und nur fallweise aktualisiert wird. Das ganze nennt sich Prototypensemantik und ist mittlerweile durch psycholinguistische Experimente gut belegt. Allen, die sich gerne genauer damit beschäftigen möchten, empfehle ich die Magisterarbeit „Merkmalssemantik vs. Prototypensemantik. Anspruch und Leistung zweier Grundkonzepte der lexikalischen Semantik“ von Philipp Overbeck. Viele empfinden diese sprachliche Uneindeutigkeit, wie sie die Prototypensemantik beobachtet und erklärt, übrigens als unbefriedigend. Tatsächlich ist sie aber die Voraussetzung dafür, dass wir Sprache flexibel und kreativ verwenden und auf neue Sachverhalte und Ideen flexibel reagieren können.
Ein Fall für die Terminologie?
Dass die Prototypensemantik mit ihren Theorien wohl nicht ganz daneben liegt, zeigt ausgerechnet die Terminologiearbeit im Unternehmen. Denn durch die Definition von Termini bzw. Fachwörtern (Terminus ist das Fachwort für „Fachwort“) verleihen wir Wörtern eben den fixen Bedeutungskern, den sie als alltagssprachliches Wort nicht haben. Wir müssen also Aufwand betreiben, um Wörter passend für die Merkmalssemantik zu machen.
Ist es nun sinnvoll, die Bedeutung von „immer“ und „nur“ terminologisch exakt zu klären? Ich denke nein, denn ein wichtiger Aspekt eines Fachworts ist, dass es für den Leser leicht als solches erkennbar ist. Typische Fachwörter sind a) Fremdwörter, b) selten und c) vergleichsweise lang:
- „Redux-Oxygenator“ erkennen wir sofort als Fachwort (obwohl ich das Wort gerade eben erfunden habe und auch nicht weiß was es bedeutet).
- „Einbruch“ würden wir nicht als Fachwort einschätzen (obwohl das durchaus ein Terminus in der juristischen Fachsprache ist).
„Immer“ und „nur“ – das ist, denke ich, klar – sind so schlecht als Fachwörter erkennbar, wie es nur geht. Wenn wir die Bedeutung von „immer“ und „nur“ nun also merkmalssemantisch unterscheiden und fixieren wollten, müssten wir deshalb sehr, sehr deutlich machen, dass diese Wörter hier Fachbegriffe sind und als solche verstanden werden sollen. Von allein würde ein Leser nicht auf die Idee kommen, hier ein Fachwort zu vermuten.
Was also tun?
Grundsätzlich ist es zwar möglich, die beiden Bedeutungen zu unterscheiden. Fragt sich nur, was dadurch gewonnen ist. Denn die Krux in dem Beispiel liegt ja darin, dass die beiden Begriffe fast gleichbedeutend sind. Die Bedeutungsschattierungen, die „immer“ und „nur“ transportieren, sind in diesem Kontext eigentlich irrelevant, sozusagen eine Geschmacksfrage.
Bleibt das Verwirrungspotenzial, wenn beide Begriffe nebeneinander verwendet werden. Und das ist tatsächlich vorhanden. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Leser versucht einen (nicht beabsichtigten) Sinn zu finden, warum ähnliche Sachverhalte unterschiedlich formuliert sind und er dadurch verwirrt wird.
Die Lösung des Ganzen ist letzten Endes recht einfach: Statt den Sinn genau abzugrenzen, würde ich mich in diesem Fall auf eine Variante (egal welche) beschränken und nur noch diese verwenden. Dadurch sind Missverständnisse ausgeschlossen und der Leser wird von semantischen Details verschont.