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Wir setzen unsere Reihe „Kennzahlen – die unbekannten Wesen“ fort. Prof. Michael Schaffner erklärt uns heute die strategische Früherkennung und das Konzept der schwachen Signale. Eine Übersicht der vier Artikel finden Sie am Ende des Beitrags.
Kennzahlen sind Informationen der Vergangenheit. Dennoch werden sie oft als Indikatoren für künftige Entwicklungen eingesetzt. Wir sind jedoch umgeben von hoher Dynamik und Komplexität. Da können Kennzahlen zwangsläufig scheitern. Die Strategische Frühaufklärung setzt daher auf „schwache Signale“. Anstatt auf klassische Kennzahlen der operativen Frühwarnung zu vertrauen, ist die Fahndung nach „weak signals“ ein kontinuierlicher Prozess.
Kennzahlen sind quantitative Informationen, die einen betriebswirtschaftlichen Sachverhalt verdichtet darstellen. Sie stellen eine Maßzahl für empirisch ermittelbare Sachverhalten dar und dienen auch als Indikator für eintretende Entwicklungen bzw. Zustände. Kennzahlen werden daher als Frühwarninstrument für Risiken und Krisen gesehen.
In der klassischen, operativen Früherkennung wird auf rückwärtsgewandte Kennzahlen gesetzt. Dabei wird von der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen, wobei von einer stabilen Entwicklung ausgegangen wird, die kausallogisch und prognostizierbar ist. Die hohe Umweltdynamik und die zunehmende Komplexität im Wirtschaftsgefüge führen jedoch zu Multikausalitäten und erschweren die Vorhersagbarkeit. Dies wiederum führt zu einem Dilemma. Infolge sinkt einerseits die mögliche Reaktionszeit, andererseits steigt aber der Zeitbedarf für die Krisenbewältigung. Je früher also eine Krise in ihren Anfängen erkannt wird, umso größer sind die Zeitvorteile. [i]
Die operative Früherkennung erfolgt wohl-strukturiert, quantitativ, kausal-analytisch, beweisführend, erfahrungsleitend und institutionalisiert. Dagegen ist die strategische Früherkennung schlecht strukturiert, qualitativ, kreativ und erfolgt in „informellen Arenen“. Strategische Früherkennung setzt dabei auf die Erkennung von „schwachen Signalen“. [ii]
Vermeidung des „unternehmerischen Tinnitus“
Das Konzept der „schwachen Signale“ (weak signals) wurde von Igor Ansoff geprägt [iii]. Er verstand hierunter Informationen über beginnende Trends, deren tatsächliche Tragweite für die Unternehmensentwicklung aber noch nicht feststeht. Seine Empfehlung war, derartige Diskontinuitäten) durch die systematische Wahrnehmung von schwachen Signalen zu identifizieren, um die unternehmerischen Chancen frühzeitig zu steigern (z.B. neue Geschäftsmodelle) bzw. Risiken zu vermeiden (z.B. Technologie- oder Marktumbrüche).
Die rechtzeitige Erkennung drohender Probleme oder Krisen durch die Identifizierung „schwacher Signale“ birgt einen erheblichen Zeitvorteil (vgl. Abb. 3). Wird beispielsweise eine Verschlechterung der redaktionellen Qualität erst durch Kundenreklamationen deutlich (Zeitpunkt: t1), bleibt wenig bis gar keine Reaktionszeit, um Schäden (z.B. Kundenverlust) abzuwenden. Wird eine Verschlechterung der redaktionellen Qualität durch vorauseilende, „schwache“ Signale (z.B. „Verständlichkeitsindizes“, „Akzeptanz der toolgestützten Autorenunterstützung“) und zu einem Zeitpunkt erkannt, wo noch keine eigentliche Krise erkennbar ist, verlängert sich die Reaktionszeit (Zeitpunkt: t1-x) und Kundenreklamationen werden idealerweise sogar vermieden.
Zentrale Probleme der strategischen Früherkennung sind:
- diese schwachen Signale ausfindig zu machen (z.B. unzugängliche Quellen, unstrukturierte Informationen, persönliche Dispositionen),
- ihre Botschaften richtig zu deuten (z.B. subjektive Empfindungen, unterschiedliche Erfahrungsschätze) und
- in strategisches Handeln umzusetzen (z.B. Reichen vage Vermutungen für Richtungsentscheidungen?).
Allein die Wahrnehmung schwacher Signale ist in der Wirtschaftspraxis nicht trivial, werden sie doch durch vielfaches Rauschen überlagert. Dieser „unternehmerische Tinnitus“ führt dazu, dass die relevanten (Nutz-)Signale nicht gehört werden und nicht der Krisenfrüherkennung dienen können, z.B.
- technisch bedingte Gründen (z.B. fehlende Zugänge zu Informationsquellen),
- personal-organisatorisch bedingte Gründe (z.B. Mitarbeiter sind sich ihrer Rolle als Krisensensor nicht bewusst, Veränderungsunwilligkeit, selektive Wahrnehmung, fehlender Teamgeist, gestörte interpersonale Kommunikationen, Führungsstil etc.).
Diesem „unternehmerische Tinnitus“ ist durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken.
Ursachen-Controlling statt Wirkungs-Controlling
Bei Zielbildungsmaßnahmen werden die Erfolgsfaktoren aller Funktionsbereiche (z.B. Personalabteilung, Vertriebsabteilung, Technische Dokumentation) für die Erreichung der Unternehmensziele definiert und über Kennzahlen abgebildet. Dies kann als Wirkungs-Controlling bezeichnet werden (Wie wirkt eine Abteilung auf die Unternehmensziele?). In einem klassischen Abteilungs-Controlling werden anschließend die Einhaltung dieser Kennzahlen überwacht. Werden die Wirkungen verfehlt, muss im Controlling-Regelkreis nachgesteuert werden. Doch die Korrekturmaßnahmen greifen oft zu spät. Daher ist auf ein Ursachen-Controlling nach dem Verursachungsprinzip umzustellen (Welche Einflüsse wirken auf den Erfolgsfaktor?).
In der strategischen Früherkennung werden daher Indikatoren entwickelt, die als „schwache Signale“ frühzeitig auf Risiken und Krisen aufmerksam machen. Unterschieden werden nacheilende Indikatoren (insb. Finanzkennzahlen), die zwar zuverlässig sind, aber auch nur in die Vergangenheit schauen und damit wenig aussagekräftig für künftige Entscheidungen sind. Vorauseilende Indikatoren indes (z.B. Innovationszyklen bei F&E, Kundenzufriedenheit, strategische Ausrichtung der Mitarbeiter) stellen eine Zustandserfassung kritischer Erfolgsfaktoren dar und blicken in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.
Die Herausforderung ist, eine Verbindung zwischen der Unternehmensfunktion (z.B. Technische Redaktion, Übersetzungsmanagement) und den kritischen Erfolgsfaktoren bzw. Zielen des Unternehmens herzustellen. Hierzu werden Ergebnisse definiert, die eine Fachabteilung (hier: Technische Dokumentation) liefern muss, um das strategische Unternehmensziel zu erreichen. Diese definieren die Schnittstelle zwischen Leistungsbeitrag einer Fachabteilung und der Erfolgsfaktoren/Ziele eines Unternehmens. Dieser Beitrag wird durch Leistungstreiber erzielt, die unternehmensspezifische und/oder personenbezogene Fertigkeiten bzw. Eigenschaften darstellen. (z.B. sichere Prozesse, Produktivität, Expertenwissen). Leistungstreiber werden zusätzlich durch Verstärker unterstützt. Anschließend werden geeignete Kennzahl abgeleitet, mit dem sich der Grad der effektiven Zielerreichung der Fachabteilung hinsichtlich des Fachergebnisses (Nicht das Unternehmensziel selbst!) als „schwaches Signal“ überprüfen lässt. Da es oft mehrere Unternehmensziele gibt und ein Unternehmensziel häufig mehrere Leistungsbeiträge aus den Fachabteilungen benötigt, muss der Prozess einer Indikatorenentwicklung mehrmals durchlaufen werden – bestenfalls in einem Workshop. So entsteht ein Kennzahlen- bzw. Indikatorengerüst für „schwache Signale“. [iv]
Fahndungsinstrumente für „schwache Signale“
Scanning und Monitoring sind die Basisaktivitäten einer Umfeldbeobachtung und stellen die Fahndungsinstrumente nach „schwachen Signalen“ dar [v]. Möglichst viele Beobachter (Mitarbeitende) durchsuchen beim Scanning das Umfeld zur Identifizierung von neuartigen Erkenntnissen, Entwicklungen etc. Dies geschieht in einem 360°-Radar entweder
- gerichtet, in dem vorab Suchfeld- und Analysestrategien entwickelt werden (z.B. potentielle Produktionsausfälle, Kundenreklamationen) oder
- ungerichtet durch hohe Sensibilität für Randerscheinungen („Blick über den Tellerrand“).
Die beim Scanning bekannt gewordenen Phänomene sind anschließend im Monitoring weiter zu qualifizieren, wobei der Übergang vom Scanning zum Monitoring relativ fließend ist. Im Monitoring erfolgt analytisch und systematisch eine Informationsvernetzung und Wissensgenerierung, um die Trends und Charakteristiken der sich anbahnenden Veränderungen beschreiben zu können. In einer anschließenden Bewertung werden Trends entwickelt, die die strategische Relevanz für das Unternehmen ermittelt und Antwortstrategien formuliert. Dabei bedarf es einer organisatorischen Offenheit und auch Toleranz für Fehlinterpretationen, um die notwendige Sensibilität nicht im Keim zu ersticken. [vi]
Die strategische Frühaufklärung von potentiellen Unternehmenskrisen setzt Anforderungen an das Management von Wissensprozessen, die im Folgenden ansatzweise dargestellt werden.
- „Rauschunterdrückung“:
In der Phase des Scannings ist zu berücksichtigen, dass die „schwachen Signale“ auch als solche wahrgenommen und nicht durch „organisatorisches Rauschen“ überlagert werden. - Informations- und Wissensvernetzung:
In der Umfeldbeobachtung bedarf es geeigneter Strukturumgebungen, die eine kontinuierliche Mitwirkung der Mitarbeiter in der Informationsgewinnung und Wissenserzeugung ermöglicht. - Vermeidung von Informationspathologien:
Fehlfunktionen in der Wissensverarbeitung müssen vermieden werden, um korrekte und zeitnahe Trendinterpretation zu ermöglichen.
„Rauschunterdrückung“
Die „Rauschunterdrückung“ hilft, die schwachen (Nutz-)Signale besser zu erkennen. Hierzu muss in jedem Unternehmen individuell und kontextbezogen analysiert werden, welches „organisatorische Rauschen“ die Erkennung von Krisensignalen verhindert.
- Ist es beispielsweise die selektive Wahrnehmung einzelner Mitarbeiter, dient die Festlegung relevanter Stakeholder, Suchfelder und Indikatoren einem gerichteten Scanning.
- Transparenz in der Wertschöpfungskette (unternehmensübergreifendes Prozessdenken), Lessons-learned, interne BarCamps sowie Kreativitätstechniken fördern die Sensibilität bei der ungerichteten Suche.
Dies öffnet ein breites Feld für die Personalentwicklung. Dem Signalrauschen, das auf Führungsprobleme oder fehlende Eigeninitiative zurückzuführen ist, kann u.a. durch aktiv unterstützte Selbstorganisation begegnet werden. Vielfach wird auch festgestellt, dass notwendige Informationsquellen entweder nicht zugänglich oder fehlerhaft sind. Damit rücken beispielsweise Wissensentwicklung (z.B. „Welche Quellen sind zugänglich zu machen?“) und Wissensbewertung (z.B. „Ist das vorhandene Wissen überhaupt noch relevant, ggf. redundant oder veraltet?“) in den Mittelpunkt.
Informations- und Wissensvernetzung
Insbesondere für das Scanning von „schwachen Signalen“ bedarf einer klaren Vision (z.B. „Jeder Mitarbeiter unterstützt durch seine Beobachtungsgabe unsere Wettbewerbsfähigkeit.“) und konkreter Wissensziele (z.B. „Kontinuierliche und sensible Beobachtung der Stakeholder.“). Eine hohe Fehlertoleranz sichert dabei die Unterstützungsbereitschaft (z.B. „Wir schätzen jede Anregung.“). Zugleich benötigen die Mitarbeiter eine für alle transparente Organisationsstruktur, um überhaupt miteinander interagieren zu können (z.B. veröffentlichter Organigramme, Rollenkonzepte, Zuständigkeitsprofile, Landkarte aller Experten etc.). Letztlich muss auch sichergestellt sein, dass durch regelmäßige Feedbacks die Mitarbeiter ihren Kurs korrigieren können.
Der Wissensprozess selbst ist insbesondere in der Phase des Monitorings durch geeignete Transformationsformen zu unterstützen. Das in den Köpfen gespeicherte (implizite) Wissen muss geteilt werden, wobei den sozialen Prozessen (persönliche Gespräche, Erfahrungsaustauschgruppen, moderiertes Brainstorming, offene Gesprächskultur, Kommunikationsinseln) weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als dies in der Wirtschaftspraxis heute oftmals der Fall ist. Zumeist wird ohne jegliche Vision beispielsweise ein Wiki eingerichtet, in der Hoffnung, den Wissensprozess hierdurch anzustoßen. Doch die Hoffnung stirbt meist früher, als so manchem lieb ist. Denn wie soll zweckdienliche Kommunikation auf elektronischem Wege funktionieren, wenn dies zwischenmenschlich schon nicht funktioniert oder seitens des Managements gefördert wird? Aber selbstverständlich sind auch klassische Formen der Kodifizierung von Wissen (Explizierung) zur Verteilung von strukturierten Informationen notwendig, wobei durchaus IT-Werkzeuge zur Wissensspeicherung und -verteilung beitragen können – aber komplementär, nicht substitutiv.
Vermeidung von Informationspathologien
Fehlinterpretationen können entweder aktorbezogen (individuelle menschliche Unzulänglichkeiten) oder interaktionsbezogen (fehlerhafte Kommunikationsprozesse) betrachtet werden, wobei einige der bereits genannten Lösungsmuster auch hier greifen können.
- Aktorbezogen: Systematische Fortbildung der Mitarbeiter im ganzheitlichen Prozessdenken und 360°-Feedbacks helfen beispielsweise, um der selektiven Wahrnehmung (bezogen auf den eigenen Arbeitsbereich) und einer fehlenden Ganzheitlichkeit im Denken zu begegnen.
- Interaktionsbezogen: Mitarbeiter müssen in der Erkundungs- (Scanning, Monitoring) und Bewertungsphase Zugang zu relevanten Informationsquellen besitzen (z.B. Fachzeitschriften, Datenbanken, Reports, Zugang zu Verbänden und wissenschaftlichen Einrichtungen) und auch geschult sein im Umgang mit Bewertungsinstrumenten (z.B. SWOT-Analyse, Szenariotechnik). Kollaborationstools unterstützen zudem die Interaktion und Informations-/Erfahrungsdatenbanken die Entscheidungsfindung (evtl. durch Expertensysteme).
Fußnoten:
[i] Vgl. Schaffner, M. (2014): Krisen kündigen sich an – mit Wissensmanagement Unternehmenskrisen vermeiden; in: Dahlke, B. / Nelke, A. / Zipperling, M. (Hrsg.): Unternehmenskommunikation in der Krise; Tagungsband FOM-Symposium, 14.10.2014 in Berlin, Essen: MA Akademieverlag
[ii] Vgl. Krystek, U. / Müller-Stewens, G. (2006): Strategische Frühaufklärung, S. 172f.; in: Hahn, D.; Taylor, B: Strategische Unternehmungsplanung – Strategische Unternehmungsführung, 9. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer, S. 175-193
[iii] Vgl. Ansoff, H. I. (1976): Managing Surprise and Discontinuity – Strategic Response to Weak Signals, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 28. Jhg., Heft 1, S. 129-152
[iv] In Anlehnung an: Oechsler, W. A. (2010): Personal und Arbeit; 9. Aufl., München: Oldenbourg, S. 175
[v] Vgl. Krystek, U.; Müller-Stewens, G.: Strategische Frühaufklärung, S. 182f.; in: Hahn, D.; Taylor, B: Strategische Unternehmungsplanung – Strategische Unternehmungsführung, 9. Aufl., Berlin/Heidelberg 2006, S. 175-193
[vi] Darstellung in Anlehnung an: Liebl, F. (1996): Strategische Frühaufklärung, München: Oldenbourg, S. 11
Übersicht der Artikel:
- Schlüssiges Vorgehen (Teil 1)
- Strategische Früherkennung (Teil 2)
- Empirische Arbeit (Teil 3)
- Statistische Logik (Teil 4)